Vor einigen Tagen in Frankreich. Ein radikalisierter islamistischer Terrorist nimmt in einem Supermarkt Geiseln. Zwei erschießt er, als sie versuchen hinauszulaufen. Eine Frau ist weiter in der Gewalt des 25-jährigen Mannes, der aus Marokko stammt. Dann trifft die Polizei ein. Unter ihnen: Der Gendarm Arnaud Beltrame. Nachdem er sich einen Überblick über die Situation gemacht hat, übernimmt er Verantwortung und beweist Mut: Er spricht mit dem Attentäter und Geiselnehmer und bietet schließlich sich selbst als Geisel, wir können sagen: als potentielles Opfer an. Der 25-Jährige lässt sich darauf ein. Die Frau kommt frei und überlebt dieses schreckliche Drama von Carcassonne. Nicht ihr Retter. Arnaud Beltrame wird ebenfalls angeschossen, schwer verletzt und erliegt später seinen Verletzungen.
Hat Arnaud Beltrame ein Opfer gebracht – sich selbst als Opfer, damit jene Frau weiterleben kann? Ich denke, wir können es so sagen. Präsident Macron sagte es ähnlich. Er sprach von ihm als „Helden“ und würdigte den „gewaltigen Mut“, den dieser zeigte. Und er fügte einen bemerkenswerten Satz hinzu: „Sein Beispiel wird bleiben.“
Mich erinnert dies an einen Satz aus dem Credo der Messe „Wie das Licht des neuen Tages“, die unser Chor bereits einige Male im Gottesdienst gesungen hat. Dort heißt es: „Ich glaube an Gott, an Gottes Schöpfungskraft. Ich glaube an Christus, sein Weg bleibt beispielhaft.“
Der Weg Jesu Christi also auch: beispielhaft.
Worin genau liegt das Beispiel, das Vorbild für uns. Lasst uns einmal gemeinsam auf die Suche begeben.
Vielleicht bringt uns der Predigttext für den heutigen Karfreitag auf eine Spur. Er steht im Biref an die Hebräer im 9. Kapitel (9,15.26b28):
Und darum ist Christus auch der Mittler des neuen Bundes, damit durch seinen Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen. Nun aber, am Ende der Welt, ist er ein für alle Mal erschienen, durch sein eigenes Opfer, die Sünde aufzuheben. Und wie den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht: so ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil.
Wenn ich versuche zu verstehen, was der uns unbekannte Schreiber des Hebräerbriefes der dritten nachösterlichen Generation um das Jahr 100 schreibt, fällt mir zunächst das Wort einmal auf. Christus ist einmal für allemal erschienen und hat bei diesem einen Mal die Sünde aufgehoben – komplett, nicht nur teilweise. Wodurch? Durch sein eigenes Opfer. Niemand anderes muss und soll also geopfert werden, um die Sünde hinwegzunehmen. Das scheint eindeutig. Niemand soll sich also an diesem seinen Opfer von Golgatha ein Beispiel nehmen.
Dennoch ist hier auch von uns Menschen die Rede: Ja, auch wir Menschen sterben. Ja, wir alle, ohne Ausnahme werden zu einer Stunde, die wir nicht kennen, sterben. Das steht fest. Daran führt keine Forschung und kein Hokuspokus vorbei. Wir können eines natürlichen Todes sterben, mit 95 Jahren wie unser Gemeindeglied Heinrich Pomimer oder mit 102 Jahren, wie unsere gute Apollonie Degner vor wenigen Tagen. Wir können aber auch jäh aus dem Leben gerissen werden, wie die erschossenen drei Opfer von Carcassonne oder wie der Gendarm Arnaud Beltrame. Uns allen gleich ist: Jeder von uns stirbt nur einmal. Doch ist ja noch ein weiterer Mensch gestorben: Der 25-jährige Täter. Er wurde am Ende des Dramas von Beltrmes Kollegen erschossen. Ist es also gleich und egal, wie wir sterben und wenn wir noch mit in den Tod reißen?
Unsere Antwort als nachösterliche Menschen kann auch heute am Karfreitag nur lauten: Natürlich nicht! Vergegenwärtigen wir uns jenen wichtigen Nachsatz: Den Menschen ist bestimmt, einmal zu sterben – sie kommen dann vor das Gericht! Jener Attentäter ist genauso vor dem Richterstuhl Christi, wie dieser Gendarme.
Erinnern wir uns an den Inhalt von Jesu Endzeitrede, die wir bei der Abendmusik am Kardienstag hier in der Thomaskirche gehört haben:
Vom Richterstuhl aus wird Christus alle voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Und zu denen zur Linken wird er sagen: Wahrlich, ich sage Euch, Was Ihr nicht getan habt einem von diesen Geringen, das habt Ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.
Wie, liebe Gemeinde, könnten wir es anders sagen als so? Gott ist die Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Gott ist das Leben und setzt sich ein für das Leben und opfert seinen Sohn für das Leben der vielen – der vielen Menschen, die so etwas Schreckliches erleben wie in Carcassonne, in Kemerowo in Sibirien oder tagtäglich in Syrien.
Es bedarf nun immer wieder neu und immer wieder stark der Weitergabe dieser Botschaft: Gott hat in Jesus Christus schon alles für uns getan – in diesem einmaligen Opfer. Er hat damit bereits das Böse in der Welt überwunden. Er wird im Gericht, das beim Tod jeden Menschen einsetzt, Recht sprechen. Wir Menschen sollen erkennen, dass dies der einzig lebendige Gott ist – sonst ist keiner. Es gibt nur einen lebendigen Gott, es ist der Gott, der mit Israel sein erstes Testament / seinen ersten Bund geschlossen hat, der Bestand hat in alle Ewigkeit. Es ist derselbe Gott, der mit allen Völkern, auch den arabischen, sein zweites Testament / seinen zweiten Bund geschlossen hat. Wie der erste Bund mit dem Blut der Opfertiere durch Moses besiegelt worden ist, so ist der zweite Bund mit dem Blut Christi besiegelt – mit und für uns in alle Ewigkeit. In welcher Weise dieser einzige, lebendige Gott im 7. Jahrhundert in der arabischen Wüste auch zu Mohammed gesprochen hat, ist für uns ein bleibendes Geheimnis mit einem Schloss, für das uns bisher der Schlüssel fehlt. Leider hat Paulus nicht im 7. Jahrhundert gelebt, um uns auch dieses Geheimnis theologisch zu erklären.
Das heißt doch: Integration in Deutschland, Frankreich und ganz Europa bedeutet doch gerade auch, von dem eigenen lebensbejahenden und Leben ermöglichenden Glauben frei und viel zu reden. In den Schulen, in den Gemeindehäusern – hier bei uns im Rahmen des Projektes „Sich begegnen, sich kennen lernen, miteinander reden“ – und darüber hinaus in Gesellschaft und Politik.
Ist es dann nicht denkbar, vielleicht sogar ganz realistisch, dass Menschen, gerade junge Menschen, die nicht im christlichen Glauben aufgewachsen sind, sich packen und überzeugen lassen von diesem lebensbejahenden Glauben, der genau keine Opfer fordert, um Gott zu gefallen und genau keine gute oder schreckliche Taten verlangt, um sein ewiges Reich, das Paradies zu ererben? Sondern – der Glaube reicht. Sola fide. Hat diese Botschaft nicht nach wie vor eine revolutionäre Kraft und kann alte Denkmuster von „Krieg und Rache“ bzw. „Göttliche Forderung und Belohnung“ sprengen?
Und diese Kraft kann dann in extremen Situationen auch dazu führen, etwas Richtiges für andere zu tun, bei dem man auch sein eigenes Leben aufs Spiel setzt. So haben das Feuerwehrmänner am 11. September im World-Trade-Center getan, um noch Menschen aus dem Gebäude zu befreien, so tun dies Tag für Tag Frauen in Flüchtlingscamps, um ihre Kinder vor dem Hungertod zu bewahren, so hat es in der vergangenen Woche auch Arnaud Beltrame getan. Er tat dies aus Verantwortungsgefühl heraus. Er tat dies frei und nicht weil er musste oder damit Gott oder den Menschen gefallen wollte. Er tat dies uneigennützig. Und genau darin liegt etwas Heldenhaftes. Und genau darin kann er uns ein Beispiel sein, ja. Und so ist es ein äußeres Zeichen für diesen inneren Zusammenhang, wenn Präsident Macron ihn posthum geehrt hat. In dem er sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, hat er nicht nur einer Frau das Leben gerettet, er hat auch ein starkes Bekenntnis abgelegt für den Gott, der das Leben mehr liebt als den Tod. Für Christus, der sich nicht zu schade war, sein Leben zu geben, zur Erlösung für die vielen.
So liegt viel Hoffnung in dem letzten Satz des Predigttextes, wo es heißt:
Zum zweiten Mal wird Christus nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil.
Wir warten – im festen Glauben. Und werden den Mund aufmachen und von unserem Glauben erzählen. Und wenn nötig, auch beherzt handeln.
Amen