Im Himmel ist Klang

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Viele von Ihnen, liebe Angehörige, liebe Gemeinde, haben ein schwieriges Jahr hinter sich, womöglich sogar ein schweres. Viele Abschiede sind nicht leicht; aber richtig schwer sind oft die unwiderruflichen. Häufig bleibt etwas ungesagt, unerledigt. Man hätte so gerne noch etwas Bestimmtes miteinander erlebt, den Abschied hinausgezögert – aber Gott bestimmte es anders.

Sie sind mit Ihrer Trauer hier, die Thomasgemeinde trauert mit Ihnen. Sie können sich aufgehoben fühlen. Und Trost suchen. Darum geht es uns ja, wenn wir traurig sind. Wir geben uns nicht einfach der Trauer hin, wir suchen Trost. Wir schauen weiter als nur auf unsere Trauer. Und fragen: Was ist nun mit unseren Toten? Was dürfen wir über sie denken, für sie und für uns hoffen?

Dazu weiß der Apostel Paulus etwas zu sagen. Er schreibt etwa im Jahre 50 nach Jesu Geburt an Christen in Korinth, die traurig sind:

Es könnte aber jemand fragen: Wie werden die Toten auferstehen und mit was für einem Leib werden sie kommen? 36 Du Narr: Was du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt. 37 Und was du säst, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, sei es von Weizen oder etwas anderem. 38 Gott aber gibt ihm einen Leib, wie er will, einem jeden Samen seinen eigenen Leib. So auch die Auferstehung der Toten. Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. 43 Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft. 44 Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib. Gibt es einen natürlichen Leib, so gibt es auch einen geistlichen Leib.

1. Korinther 15, 35-38.42-44

Wir müssen sterben, sagt der Apostel, damit Gott uns wieder leben lässt. Wir müssen verweslich sein, niedrig und schwach, damit Gott uns unverweslich, kräftig und herrlich machen kann. Es muss so sein, wie es ist, schreibt Paulus an die Trauernden, damit Gott sein Werk vollbringen kann. Ein Werk, das unser Verstehen übersteigt.

Als wir am Anfang der Corona-Zeit eine Trauerfeier vor der Friedhofskapelle des Waldfriedhofs feierten, ging es mir so, als spürte ich etwas von Gottes Werk, das unser Verstehen übersteigt.

Der Bestatter hatte alles sehr schön vorbereitet. Wir saßen auf Abstand und mit Masken unter einem herrlichen frühlingshaften, fast frühsommerlichen hohen, blauen Himmel. Der junge Pianist spielte wunderbare Lieder. Und die Vögel, ja die vielen Vögel auf den umliegenden Bäumen sangen dazu. Es war, als würde der Verstorbene, um den wir trauerten, eben hinübergeleitet durch diese Klänge, ja als würde der natürliche Leib auferstehen als ein geistlicher Leib.

Einer der großen Dichter des 20. Jahrhunderts, der als Jude Zeit seines Lebens sehr viel schreckliches durchgemacht hat, ist Paul Celan. Ich hätte am morgigen 23. November seinen 100. Geburtstag gefeiert.

In einem seiner Gedicht schrieb er diesen zauberhaften Satz:

Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen.

Das ist ein Bild voller Hoffnung. In dem kleinen Satz wird einerseits ein „Jenseits“ angesprochen, also Leben in einer anderen Welt. Und in dieser anderen Welt – nennen wir sie Gottes Welt – ereignet sich etwas, was auch in der Welt, in der wir leben und oft leiden, meist sehr tröstlich ist: es werden Lieder gesungen. Der Dichter stellt sich vor, wie es im Jenseits sein wird. Und er spricht über seine Hoffnung, dass dort, jenseits der Menschen auf Erden, ein schöner Klang ist, der uns wohl tut. Im Himmel ist Klang.

Eine schöne Hoffnung für alle Menschen, denen schon die Klänge auf Erden viel bedeutet haben, wie unsere drei Chor-Geschwister, von denen wir in diesem Jahr Abschied nehmen mussten, ohne bei der Trauerfeier dabei sein zu können, um die wir heute trauern und an die wir heute denken: Edith Weidtmann, Helmut Gathmann, Walter Haselhorst. Urgesteine der Thomasgemeinde und bis zuletzt mit der Chorgemeinschaft, ja der ganzen Gemeinde und insbesondere der Musik verbunden. Walter, so erzählten mir die Pflegerinnen und Pfleger im Klinikum, ging bis zu den letzten Tagen seines Lebens immer noch in die Kapelle, setzte sich an das Klavier und spielte Lieder und der eine Arzt und eine andere Pflegerin kamen dazu und sangen einfach – und das in dieser Zeit!

Im Himmel ist Klang. Auch eine schöne Hoffnung für uns, die wir heute in die Thomaskirche gekommen sind. Wir vermissen das gemeinsame Singen – natürlich. Wir freuen uns aber an der Musik und an dem Gesang von Frank Petersmann. Und wir werden gestärkt in der Hoffnung, dass wir nicht erst im Himmel wieder gemeinsam singen werden, sondern bereits im Laufe des neuen Jahres. Des Jahres des Herrn 2021.

Es ist tröstend für uns zu hören:

Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen.

Ein Grab heißt nicht, dass Gott keine Worte mehr hat. Er weiß Wege – für die Verstorbenen, aber auch für uns, die wir traurig Abschied nehmen mussten.

Es wird eine Zeit sein nach unserer Zeit, in der zurechtgebracht wird, was im Unfrieden zurückblieb. Manchmal gelingt es Menschen ja – das hoffe ich auch für Sie und mich – das Leben in einem großen Frieden mit ihren Mitmenschen zu beenden. Sie suchen die Vergebung oder die Bitte um Entschuldigung; sie ordnen ihren Nachlass, sie suchen keinen Streit mehr, sondern beenden ihn.

Menschen, die so sterben, gehen getröstet in Gottes Reich.

Manchmal gibt es aber auch Brüche, Streit, Schuld – oder die Plötzlichkeit eines Todes, der dann vieles offen lässt. Auch diese Fragen wird Gott lösen. Auch den Menschen und ihren Angehörigen wird die Zeit gegeben werden, sich zu befrieden – wenn sie das, hoffentlich, wollen. Ein Grab weist Richtung Himmel. Dort wartet Gott – mit Gericht und Gnade.

All das hören wir und erzählen wir uns, damit wir klug werden, lebensklug. Niemals, liebe Angehörige, liebe Gemeinde, niemals sollten wir so leben, als gebe es den Tod nicht. Dadurch, dass wir einfach nicht daran denken, bleibt der Tod nicht weg oder ferne von uns. Nicht nur andere sterben, wir selbst werden eines Tages auch sterben. Ja, das ist eine Selbstverständlichkeit; aber es ist doch zu beobachten, dass viele lieber nicht daran denken. Das sollen wir aber und das dürfen wir auch. Und wir müssen davor keine Angst haben. Der Tod ist auch eingebettet in Gottes Barmherzigkeit und seine Mächtigkeit. Er verwandelt uns, aber er löscht uns nicht aus.

Darum dürfen wir, sogar im Frieden, an den Tod denken. Er will keine Bedrohung sein. Er ist nur ein Knecht Gottes. Und er ist in Gottes Augen dazu da, dass er unserem Leben Wert gibt. Die Tage unseres Lebens sind wertvoll – ganz gleich, wie viele Tage es sind.

Und wir gestalten sie so, dass wir ihren Wert erkennen: aufmerksam, behutsam, so liebenswürdig wie möglich. Wir wenden uns einander zu; wir sorgen dafür, dass die Streitereien enden; wir teilen mit den Bedürftigen, was wir erübrigen können. Wir tun alles dafür, was unsere Tage und unser Leben wertvoll macht. Und das tun wir nicht demnächst oder irgendwann, sondern am besten heute, morgen und übermorgen.

Und klingen wollen auch wir – schon jetzt im Diesseits. Innerlich klingen, wenn wir noch nicht wieder aus voller Seele singen können. Hineingeben wollen wir uns in das nächste Lied, in einer schwierigen Zeit, 1941, vom Pastor Arno Pötzsch gedichtet: „Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand.“

Und denken wollen wir dabei an die, von denen wir Abschied nehmen mussten. Und denken wir auch an uns, die wir uns einmal werden verabschieden müssen. Wer stirbt, ist nicht weg. Wer stirbt, verlässt nur die Zeit – und geht ein in die Ewigkeit Gottes.

Amen