„s’ist als ob Engelein singen wieder von Frieden und Freud…“
…da plötzlich ein kurzer, heftiger Knall, und tausend Risse durchziehen die Frontscheibe meines Autos. Ein kleiner Stein, hochgeschleudert vom Hinterrad eines überholenden Wagens – und aus ist es mit der heilen Weihnachtswelt. Von einer Sekunde auf die andere jegliche Orientierung weg, die Kontrolle verloren…
Dieses schockierende Erlebnis war plötzlich wieder lebendig, als sich Anfang dieses Jahres die dramatischen Meldungen von der rasanten Ausbreitung der CoronaPandemie überschlugen. Alles was eben noch sicher und verlässlich erschienen war, plötzlich ins Wanken geraten, der Boden unter den Füßen weggerutscht. Stattdessen überall Risse, Trümmer…
Nach und nach dann Fragen: War diese Katastrophe wirklich einfach so über uns herein gebrochen wie Weihnachten 2004 der Tsunami über die indonesischen Inseln? Hatte es nicht zuvor schon Anzeichen, Warnungen gegeben – so wie auch vor der Reaktorexplosion in Tschernobyl oder wie beim Einsturz der Autobahnbrücke in Genua? Risse, vor denen Verantwortliche aus Bequemlichkeit, aus Angst oder aus Gewinnsucht die Augen verschlossen hatten?
Um Risse, die sichtbar oder unsichtbar unser Leben durchziehen, geht es auch in „Anthem“ des kanadischen Sängers und Poeten Leonard Cohen (frei übersetzt):
„Die Kriege gehen weiter“ heißt es da, „die Friedenstaube haben sie vertrieben. Flüchten ist sinnlos, denn die Mörder, die das heraufbeschworen haben, sitzen in den oberen Etagen und plärren lauthals ihre Gebete. Du fragst n ach Hoffnung – sieh, die Hoffnungszeichen sind bereits sichtbar: Risse, Risse überall – und durch sie scheint das Licht herein. Im Morgengrauen singen die Vögel: Fang’ noch mal an!“
Von Hoffnungszeichen, die einen Neuanfang nach einer Katastrophe möglich erscheinen lassen, handelt auch Günter Weisenborns Kurzgeschichte „Zwei Männer“.
In Argentinien hat der Parana, der größte Strom des Landes, verheerende Überschwemmungen angerichtet. Die riesige Farm an dessen Ufer ist in den Fluten verschwunden, nur der Großgrundbesitzer und ein Peon, ein Landarbeiter, haben sich auf einen Hügel flüchten können. Doch das Wasser steigt unerbittlich weiter, und die Scheune, deren Dach ihre letzte Zuflucht ist, wird der Strömung nicht lange standhalten können, das wissen beide. Als sie am Ende auf den Trümmern des Daches stromabwärts treiben, ist der Peon drauf und dran, den andern, für den er stets ein Nichts war, einfach ins Wasser zu stoßen, um wenigstens sein eigenes Leben zu retten. In dieser Situation geschieht etwas völlig Unerwartetes: der Chef holt seine letzte Zigarette aus der Tasche und bricht sie durch, um sie mit ihm zu teilen. Diese Geste macht ihn so betroffen, dass er sich aufrichtet, um zu springen und lieber selbst zu ertrinken – doch der andere packt ihn und zieht ihn wieder hinauf.
Diese Irrfahrt zweier Überlebender auf den Trümmern ihres einstigen Lebens ist geradezu ein Sinnbild ihres Schicksals: Besitz zerstört, Familie verloren, hilflos dem Wüten der Natur ausgeliefert, ziellos in die Finsternis treibend…
Eine kleine, fast banale Geste ist es, die in er schwärzesten Nacht ihres Lebens einen Riss entstehen lässt, einen minimalen Hoffnungsschimmer. „Gegen Morgen trieben sie an Land und wateten stundenlang durch Sümpfe, bis sie ins Trockene kamen. Als sie sich zum Schlafen in ein Maisfeld legten, sagte der Farmer: “Morgen gehen wir zurück und fangen wieder an.“ „Bueno“ sagte der Indio.
Eine Szene, die an die Errettung Noahs und seiner Arche aus der biblischen Sintflut erinnert. Die Zusage, dass sich eine solche Heimsuchung niemals wiederholen werde, gibt Noah das Vertrauen und die Kraft, einen neuen Anfang zu wagen.
Vertrauen und Frieden unter den Völkern verkünden die Engel im Strahlenglanz den Hirten auf den Feldern von Bethlehem. Mein Engel hingegen, den ich für diesen Brief fotografiert habe, schwebt nicht so weiß-golden über den Wolken wie man es aus Barockkirchen kennt, sondern dieser ist Voller Risse und Löcher, Spuren, die das Schicksal ihm verpasst hat. Die Künstlerin hat ihn aus Treibholz gestaltet, das wie das Floß der Männer vom Parana eine lange Irrfahrt auf Ostsee hinter sich hat. Kein goldener Schein umgibt ihn, stattdessen ein verrosteter Draht um seinen Kopf. Doch ich vermute, eine solche Botschaft auf Augenhöhe wird bei den hungrigen, frierenden Hirten umso überzeugender ankommen.
Und selbst auf dem Trümmergrundstück des letzten Bildes findet sich ein Zeichen der Hoffnung: aus dem Riss zwischen den schwarzen Steinen wächst neues Leben!
Vielleicht hat Leonard Cohen genau dies gemeint: es bedarf der Risse in der Welt, der Verletzungen in unserm Leben, damit das Licht der Hoffnung hindurch scheinen kann – damit es wirklich Weihnachten werde…
Friedemann Meier