Liebe Weihnachtsgemeinde!

Wie sieht er aus dieser Freudenbote, der da Frieden verkündigt, der Gutes predigt, Heil verkündet! Sicher war damals, als das Volk Israel im Exil in Babylon lebte, genau so wenig an eine übernatürliche Person gedacht worden, wie wir heute – mitten in der weltweiten Corona-Pandemie – an eine solche denken sollten. Dieser Freudenbote ist ein Mensch aus Fleisch und Blut und er hat etwas Gutes, etwas heilvolles, ja Heil und Segen bringendes zu sagen!

Im Mai, nach der ersten Welle, als wir vorsichtig und besonnen wieder begannen, im Kleinen Andachten in der Thomaskirche zu feiern und das Leben im Lande zu organisieren, während es draußen wärmer und schöner und somit auch unbeschwerter wurde, haben wir alle den Freudenboten herbei gesehnt, der uns verkündigen würde, dass ein Impfstoff gegen das Corona-Virus gefunden sei, der zudem noch sicher sei und ausreichend für 2/3 der Menschen in allen Ländern hergestellt werden könne. Seit Montag ist er in der EU zugelassen. Ab übermorgen wird er in allen 27 Ländern der EU zur Verfügung stehen und kann gespritzt werden. Es sind diese Männer und Frauen, die wir in den letzten zehn Tagen im Fernsehen gesehen haben, die unermüdlich genau dafür gearbeitet und sich in Dienst der Gesundheit der Menschheit gestellt haben, die nichts weniger sind als die Freudenboten unserer Zeit – sie haben uns dieses Gute gepredigt und kommendes Heil verkündigt. Bei Gott geht es nämlich um Leben und um Zukunft. Nicht um leichtfertiges Handeln, das zum eigenen Tod oder zu dem meiner Mitmenschen führt.

Trümmer gibt es in der Welt – in jeder Menschheitsepoche wieder. Jesaja erinnert an die Trümmer Jerusalems, die die Eroberung durch die Babylonier hinterlassen haben. Die Ältesten unserer Gemeinde erinnern sich noch an die Trümmer in Osnabrück am Ende des Krieges 1945. Wir alle haben die riesigen, Asche überlagerten Trümmer am Ground Zero in New York noch vor Augen, die die Anschläge vom 11. September 2001 hinterlassen haben. Und dieses Jahr hat im übertragenen Sinne sicher auch eine ganze Reihe Trümmer in unserem Leben hinterlassen. Träume sind zerplatzt, Pläne zunichte gemacht worden. Von gewohnten Gewissheiten haben wir uns verabschieden müssen – und von einigen lieben Menschen, die uns nahe standen, haben wir ebenso Abschied genommen. Vielleicht habe ich auch erkannt, was wirklich wichtig ist im Leben und auf was ich gut verzichten kann. Diese Trümmer liegen da. Einige habe ich vielleicht schon angepackt und begonnen, daraus etwas Neues zu bauen – weil genau darum geht es!

Jesaja spricht an diesem Weihnachtsfest auch zu uns: „Seid fröhlich und jubelt miteinander, die ihr in Euren Trümmern sitzt, denn der Herr hat Euch, sein Volk, getröstet und die ihr zu ihm gehört, erlöst. Alle sollen das Heil unseres Gottes sehen.“

Nach der Zeit der Trauer, der Orientierungslosigkeit und der Unsicherheit gibt es jetzt einen Neustart, einen neuen Aufbruch, ermöglicht durch Gott, der uns an diesem Weihnachtsfest ganz deutlich sagt: „Ich habe Euch nicht verlassen. Ich bin da – für Euch. Gemeinsam mit Euch möchte ich das Neue bauen. Die Zukunft kommt von mir her. Sie ist offen und vieles ist möglich. Geh verantwortungsvoll und mutig mit ihr um. Erste Freudenboten habe ich bereits entsandt. Verbreite die Kunde, die auch dem Frieden dienen wird.“

Ja, und diese Freudenboten sind bereits da. Wir dürfen uns an der Verbreitung dieser Freudenbotschaft beteiligen, ja wir sollen das sogar. Das Sich-Impfen-Lassen geht dabei Hand in Hand mit der Normalisierung des Lebens. Und die Normalisierung des Lebens muss dann auch einhergehen mit der Veränderung des globalen Wirtschaftens in all seinen Facetten. Und diese Veränderungen werden dann auch der Gerechtigkeit und dem Frieden und der Bewahrung der Schöpfung dienen. Und diesen Veränderungsprozess überlassen wir als Christinnen und Christen nicht einfach nur unseren Politikerinnen und Politikern – nein, wir selbst bringen uns ein, streitet mit, machen Vorschläge und beginnen im Kleinen, wie Gott es von uns fordert. Kraft seiner Verheißung und seines Segens können wir dies auch.

Seien wir das, was wir sind: Volk Gottes.

Handeln wir nach dem, was wir sind: Leib Christi.

Denn: Der Herr hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, dass aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes.

So lasst uns auf diese Zukunft zugehen – auf ein weihnachtliches Jahr des Neustarts und des Aufbruchs.

Fröhliche Weihnachten!

„s’ist als ob Engelein singen wieder von Frieden und Freud…“

…da plötzlich ein kurzer, heftiger Knall, und tausend Risse durchziehen die Frontscheibe meines Autos. Ein kleiner Stein, hochgeschleudert vom Hinterrad eines überholenden Wagens – und aus ist es mit der heilen Weihnachtswelt. Von einer Sekunde auf die andere jegliche Orientierung weg, die Kontrolle verloren…

Dieses schockierende Erlebnis war plötzlich wieder lebendig, als sich Anfang dieses Jahres die dramatischen Meldungen von der rasanten Ausbreitung der CoronaPandemie überschlugen. Alles was eben noch sicher und verlässlich erschienen war, plötzlich ins Wanken geraten, der Boden unter den Füßen weggerutscht. Stattdessen überall Risse, Trümmer…

Nach und nach dann Fragen: War diese Katastrophe wirklich einfach so über uns herein gebrochen wie Weihnachten 2004 der Tsunami über die indonesischen Inseln? Hatte es nicht zuvor schon Anzeichen, Warnungen gegeben – so wie auch vor der Reaktorexplosion in Tschernobyl oder wie beim Einsturz der Autobahnbrücke in Genua? Risse, vor denen Verantwortliche aus Bequemlichkeit, aus Angst oder aus Gewinnsucht die Augen verschlossen hatten?

Um Risse, die sichtbar oder unsichtbar unser Leben durchziehen, geht es auch in „Anthem“ des kanadischen Sängers und Poeten Leonard Cohen (frei übersetzt):

„Die Kriege gehen weiter“ heißt es da, „die Friedenstaube haben sie vertrieben. Flüchten ist sinnlos, denn die Mörder, die das heraufbeschworen haben, sitzen in den oberen Etagen und plärren lauthals ihre Gebete. Du fragst n ach Hoffnung – sieh, die Hoffnungszeichen sind bereits sichtbar: Risse, Risse überall – und durch sie scheint das Licht herein. Im Morgengrauen singen die Vögel: Fang’ noch mal an!“

Von Hoffnungszeichen, die einen Neuanfang nach einer Katastrophe möglich erscheinen lassen, handelt auch Günter Weisenborns Kurzgeschichte „Zwei Männer“.

In Argentinien hat der Parana, der größte Strom des Landes, verheerende Überschwemmungen angerichtet. Die riesige Farm an dessen Ufer ist in den Fluten verschwunden, nur der Großgrundbesitzer und ein Peon, ein Landarbeiter, haben sich auf einen Hügel flüchten können. Doch das Wasser steigt unerbittlich weiter, und die Scheune, deren Dach ihre letzte Zuflucht ist, wird der Strömung nicht lange standhalten können, das wissen beide. Als sie am Ende auf den Trümmern des Daches stromabwärts treiben, ist der Peon drauf und dran, den andern, für den er stets ein Nichts war, einfach ins Wasser zu stoßen, um wenigstens sein eigenes Leben zu retten. In dieser Situation geschieht etwas völlig Unerwartetes: der Chef holt seine letzte Zigarette aus der Tasche und bricht sie durch, um sie mit ihm zu teilen. Diese Geste macht ihn so betroffen, dass er sich aufrichtet, um zu springen und lieber selbst zu ertrinken – doch der andere packt ihn und zieht ihn wieder hinauf.

Diese Irrfahrt zweier Überlebender auf den Trümmern ihres einstigen Lebens ist geradezu ein Sinnbild ihres Schicksals: Besitz zerstört, Familie verloren, hilflos dem Wüten der Natur ausgeliefert, ziellos in die Finsternis treibend…

Eine kleine, fast banale Geste ist es, die in er schwärzesten Nacht ihres Lebens einen Riss entstehen lässt, einen minimalen Hoffnungsschimmer. „Gegen Morgen trieben sie an Land und wateten stundenlang durch Sümpfe, bis sie ins Trockene kamen. Als sie sich zum Schlafen in ein Maisfeld legten, sagte der Farmer: “Morgen gehen wir zurück und fangen wieder an.“ „Bueno“ sagte der Indio.

Eine Szene, die an die Errettung Noahs und seiner Arche aus der biblischen Sintflut erinnert. Die Zusage, dass sich eine solche Heimsuchung niemals wiederholen werde, gibt Noah das Vertrauen und die Kraft, einen neuen Anfang zu wagen.

Vertrauen und Frieden unter den Völkern verkünden die Engel im Strahlenglanz den Hirten auf den Feldern von Bethlehem. Mein Engel hingegen, den ich für diesen Brief fotografiert habe, schwebt nicht so weiß-golden über den Wolken wie man es aus Barockkirchen kennt, sondern dieser ist Voller Risse und Löcher, Spuren, die das Schicksal ihm verpasst hat. Die Künstlerin hat ihn aus Treibholz gestaltet, das wie das Floß der Männer vom Parana eine lange Irrfahrt auf Ostsee hinter sich hat. Kein goldener Schein umgibt ihn, stattdessen ein verrosteter Draht um seinen Kopf. Doch ich vermute, eine solche Botschaft auf Augenhöhe wird bei den hungrigen, frierenden Hirten umso überzeugender ankommen.

Und selbst auf dem Trümmergrundstück des letzten Bildes findet sich ein Zeichen der Hoffnung: aus dem Riss zwischen den schwarzen Steinen wächst neues Leben!

Vielleicht hat Leonard Cohen genau dies gemeint: es bedarf der Risse in der Welt, der Verletzungen in unserm Leben, damit das Licht der Hoffnung hindurch scheinen kann – damit es wirklich Weihnachten werde…

Friedemann Meier

In diesem Advent kann das traditionelle Musikschulkonzert in der Thomaskirche nicht stattfinden. Dafür hat die Musik- und Kunstschule Osnabrück einen musikalischen Adventskalender eingespielt. Er möchte Ihnen, ja uns allen jeden Tag etwas musikalische Freude bereiten. Die Thomasgemeinde sagt Danke und freut sich auf viele digitale Klänge in diesem Jahr und wieder einige analoge Konzerte im kommenden Jahr.

#24kleineWeihnachtsgrüße

Hier geht´s zum musikalischen Adventskalender:

Viele von Ihnen, liebe Angehörige, liebe Gemeinde, haben ein schwieriges Jahr hinter sich, womöglich sogar ein schweres. Viele Abschiede sind nicht leicht; aber richtig schwer sind oft die unwiderruflichen. Häufig bleibt etwas ungesagt, unerledigt. Man hätte so gerne noch etwas Bestimmtes miteinander erlebt, den Abschied hinausgezögert – aber Gott bestimmte es anders.

Sie sind mit Ihrer Trauer hier, die Thomasgemeinde trauert mit Ihnen. Sie können sich aufgehoben fühlen. Und Trost suchen. Darum geht es uns ja, wenn wir traurig sind. Wir geben uns nicht einfach der Trauer hin, wir suchen Trost. Wir schauen weiter als nur auf unsere Trauer. Und fragen: Was ist nun mit unseren Toten? Was dürfen wir über sie denken, für sie und für uns hoffen?

Dazu weiß der Apostel Paulus etwas zu sagen. Er schreibt etwa im Jahre 50 nach Jesu Geburt an Christen in Korinth, die traurig sind:

Es könnte aber jemand fragen: Wie werden die Toten auferstehen und mit was für einem Leib werden sie kommen? 36 Du Narr: Was du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt. 37 Und was du säst, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, sei es von Weizen oder etwas anderem. 38 Gott aber gibt ihm einen Leib, wie er will, einem jeden Samen seinen eigenen Leib. So auch die Auferstehung der Toten. Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. 43 Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft. 44 Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib. Gibt es einen natürlichen Leib, so gibt es auch einen geistlichen Leib.

1. Korinther 15, 35-38.42-44

Wir müssen sterben, sagt der Apostel, damit Gott uns wieder leben lässt. Wir müssen verweslich sein, niedrig und schwach, damit Gott uns unverweslich, kräftig und herrlich machen kann. Es muss so sein, wie es ist, schreibt Paulus an die Trauernden, damit Gott sein Werk vollbringen kann. Ein Werk, das unser Verstehen übersteigt.

Als wir am Anfang der Corona-Zeit eine Trauerfeier vor der Friedhofskapelle des Waldfriedhofs feierten, ging es mir so, als spürte ich etwas von Gottes Werk, das unser Verstehen übersteigt.

Der Bestatter hatte alles sehr schön vorbereitet. Wir saßen auf Abstand und mit Masken unter einem herrlichen frühlingshaften, fast frühsommerlichen hohen, blauen Himmel. Der junge Pianist spielte wunderbare Lieder. Und die Vögel, ja die vielen Vögel auf den umliegenden Bäumen sangen dazu. Es war, als würde der Verstorbene, um den wir trauerten, eben hinübergeleitet durch diese Klänge, ja als würde der natürliche Leib auferstehen als ein geistlicher Leib.

Einer der großen Dichter des 20. Jahrhunderts, der als Jude Zeit seines Lebens sehr viel schreckliches durchgemacht hat, ist Paul Celan. Ich hätte am morgigen 23. November seinen 100. Geburtstag gefeiert.

In einem seiner Gedicht schrieb er diesen zauberhaften Satz:

Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen.

Das ist ein Bild voller Hoffnung. In dem kleinen Satz wird einerseits ein „Jenseits“ angesprochen, also Leben in einer anderen Welt. Und in dieser anderen Welt – nennen wir sie Gottes Welt – ereignet sich etwas, was auch in der Welt, in der wir leben und oft leiden, meist sehr tröstlich ist: es werden Lieder gesungen. Der Dichter stellt sich vor, wie es im Jenseits sein wird. Und er spricht über seine Hoffnung, dass dort, jenseits der Menschen auf Erden, ein schöner Klang ist, der uns wohl tut. Im Himmel ist Klang.

Eine schöne Hoffnung für alle Menschen, denen schon die Klänge auf Erden viel bedeutet haben, wie unsere drei Chor-Geschwister, von denen wir in diesem Jahr Abschied nehmen mussten, ohne bei der Trauerfeier dabei sein zu können, um die wir heute trauern und an die wir heute denken: Edith Weidtmann, Helmut Gathmann, Walter Haselhorst. Urgesteine der Thomasgemeinde und bis zuletzt mit der Chorgemeinschaft, ja der ganzen Gemeinde und insbesondere der Musik verbunden. Walter, so erzählten mir die Pflegerinnen und Pfleger im Klinikum, ging bis zu den letzten Tagen seines Lebens immer noch in die Kapelle, setzte sich an das Klavier und spielte Lieder und der eine Arzt und eine andere Pflegerin kamen dazu und sangen einfach – und das in dieser Zeit!

Im Himmel ist Klang. Auch eine schöne Hoffnung für uns, die wir heute in die Thomaskirche gekommen sind. Wir vermissen das gemeinsame Singen – natürlich. Wir freuen uns aber an der Musik und an dem Gesang von Frank Petersmann. Und wir werden gestärkt in der Hoffnung, dass wir nicht erst im Himmel wieder gemeinsam singen werden, sondern bereits im Laufe des neuen Jahres. Des Jahres des Herrn 2021.

Es ist tröstend für uns zu hören:

Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen.

Ein Grab heißt nicht, dass Gott keine Worte mehr hat. Er weiß Wege – für die Verstorbenen, aber auch für uns, die wir traurig Abschied nehmen mussten.

Es wird eine Zeit sein nach unserer Zeit, in der zurechtgebracht wird, was im Unfrieden zurückblieb. Manchmal gelingt es Menschen ja – das hoffe ich auch für Sie und mich – das Leben in einem großen Frieden mit ihren Mitmenschen zu beenden. Sie suchen die Vergebung oder die Bitte um Entschuldigung; sie ordnen ihren Nachlass, sie suchen keinen Streit mehr, sondern beenden ihn.

Menschen, die so sterben, gehen getröstet in Gottes Reich.

Manchmal gibt es aber auch Brüche, Streit, Schuld – oder die Plötzlichkeit eines Todes, der dann vieles offen lässt. Auch diese Fragen wird Gott lösen. Auch den Menschen und ihren Angehörigen wird die Zeit gegeben werden, sich zu befrieden – wenn sie das, hoffentlich, wollen. Ein Grab weist Richtung Himmel. Dort wartet Gott – mit Gericht und Gnade.

All das hören wir und erzählen wir uns, damit wir klug werden, lebensklug. Niemals, liebe Angehörige, liebe Gemeinde, niemals sollten wir so leben, als gebe es den Tod nicht. Dadurch, dass wir einfach nicht daran denken, bleibt der Tod nicht weg oder ferne von uns. Nicht nur andere sterben, wir selbst werden eines Tages auch sterben. Ja, das ist eine Selbstverständlichkeit; aber es ist doch zu beobachten, dass viele lieber nicht daran denken. Das sollen wir aber und das dürfen wir auch. Und wir müssen davor keine Angst haben. Der Tod ist auch eingebettet in Gottes Barmherzigkeit und seine Mächtigkeit. Er verwandelt uns, aber er löscht uns nicht aus.

Darum dürfen wir, sogar im Frieden, an den Tod denken. Er will keine Bedrohung sein. Er ist nur ein Knecht Gottes. Und er ist in Gottes Augen dazu da, dass er unserem Leben Wert gibt. Die Tage unseres Lebens sind wertvoll – ganz gleich, wie viele Tage es sind.

Und wir gestalten sie so, dass wir ihren Wert erkennen: aufmerksam, behutsam, so liebenswürdig wie möglich. Wir wenden uns einander zu; wir sorgen dafür, dass die Streitereien enden; wir teilen mit den Bedürftigen, was wir erübrigen können. Wir tun alles dafür, was unsere Tage und unser Leben wertvoll macht. Und das tun wir nicht demnächst oder irgendwann, sondern am besten heute, morgen und übermorgen.

Und klingen wollen auch wir – schon jetzt im Diesseits. Innerlich klingen, wenn wir noch nicht wieder aus voller Seele singen können. Hineingeben wollen wir uns in das nächste Lied, in einer schwierigen Zeit, 1941, vom Pastor Arno Pötzsch gedichtet: „Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand.“

Und denken wollen wir dabei an die, von denen wir Abschied nehmen mussten. Und denken wir auch an uns, die wir uns einmal werden verabschieden müssen. Wer stirbt, ist nicht weg. Wer stirbt, verlässt nur die Zeit – und geht ein in die Ewigkeit Gottes.

Amen

Unsere Gedanken gehen heute zu den Menschen in der Region, die in Deutschland und in den Medien „Berg-Karabach“ genannt wird. Es ist das Gebiet, das seit langer Zeit überwiegend von Armeniern bewohnt wird. Diese haben im Jahr 2017 die freie Republik „Arzach“ ausgerufen, die allerdings international nicht anerkannt ist. Der Staat Armenien unterstützt seine Landsleute in Arzach.

Diese Region wurde allerdings bereits in der frühen Geschichte der UdSSR, nämlich 1923 per Dekret unter Josef Stalin der Aserbaidschanischen SSR zugewiesen. Die Armenier waren sehr enttäuscht – der Wunsch, dies rückgängig zu machen, wurde von Generation zu Generation weitergegeben.

Zugleich ist das armenische Volk durch den Genozid während des 1. Weltkrieges, der Ihnen durch Staat und Militär des Osmanischen Reiches widerfuhr, nachhaltig traumatisiert. Auch dieses Trauma wird von Generation zu Generation weitergegeben. Viele Armenier*innen heute, häufig junge Leute, erzählen übereinstimmend von existentiellen Ängsten und schrecklichen Alpträumen. Die Angst, dass es einen zweiten Genozid geben könnte, ist real.

Ist es die Gefahr auch?

Am 9. November haben wir in Deutschland und weltweit an die Pogromnacht von 1938 gedacht. Wir haben gute Gedenkreden gehört und uns gegenseitig gesagt: „Nie wieder einen Genozid zulassen!“

Heute nun sind wir angefragt und müssen uns bekennen: Machen wir uns die Gefahr eines erneuten Genozids am armenischen Volk bewusst? Nehmen wir Armenierinnen und Armenier mit ihren Existenzängsten ernst? Was können wir über das Gebet hinaus für sie tun? Wie sieht in dieser Situation Solidarität aus?

Ein Friedensabkommen ist durch Russland vermittelt worden. Das Töten ist vorerst gestoppt. Das ist das gute daran. Das weniger gute ist, dass Aserbaidschan sich als Sieger des Krieges sieht, den es brutal mit modernster Drohnentechnik geführt hat und dass die Türkei frohlockt, die Aserbaidschan militärisch von Anfang an unterstützt hat. Präsident Erdogan spricht bei Wahlkampfauftritten davon, mit den Armeniern das zu vollenden, was vor 100 Jahren unvollendet blieb. Da ist sie wieder: Die reale Gefahr.

Welche Chancen hat der Friedensweg nun? Welche Chancen haben die Verhandlungen, die jetzt beginnen?

Ich bin der Überzeugung, dass sich diese Chancen signifikant erhöhen, wenn wir gemeinsam, im Wissen um das Leid an den Armenier*innen vor 100 Jahren, im Wissen um ihre Traumata und Ängste, im Bekenntnis, dass sich kein Genozid wiederholen darf, wenn wir also gemeinsam für einen gerechten Frieden beten, der insbesondere den Menschen, die in Arzach / Bergkarabach leben und leben wollen, dient. Ein gerechter Friede, der nicht den Machtinteressen Ankaras oder Moskaus dient. Dafür wollen wir beten.

Amen

„Danke für meine Arbeitsstelle, danke für jedes kleine Glück. Danke für alles Frohe, Helle und für die Musik“, heißt es in diesem bekannten Kirchenlied, das es sogar mal in die deutschen Charts geschafft hat. Nichts ist selbstverständlich – das erfahren wir aufs Neue in dieser Zeit, die geprägt ist von der Corona-Pandemie. Danken können wir dafür, dass viele von uns in diesen Monaten nicht entlassen worden sind – wie es in anderen Ländern ja gang und gäbe ist – sondern durch das Kurzarbeitergeld in Beschäftigung gehalten werden konnten und können. Danken können wir für so manches kleine Glück, das uns in diesen Tagen widerfahren ist, eine kleine Feier, die stattfinden konnte – z.B. die Konfirmation – ein Telefonanruf, der mich wieder aufgebaut hat oder auch eine Begegnung, die meiner Seele gut getan hat.

Auch für das Helle und das Frohe kann ich danken – wie viele helle Sonnentage haben wir in diesem Jahr geschenkt bekommen?

Für besonnene Politikerinnen und Politiker, für engagierte Lehrerinnen und Lehrer, für präsente Pastorinnen und Pastoren können wir danken und dafür, dass wieder Musik gemacht und gehört werden kann in den Schulen, den Vereinen und den Kirchen.

Schließlich können wir auch danken dafür, dass wir einander haben hier in unseren Stadtteilen und dass wir sie gemeinsam weiterentwickeln wollen. Die Erfahrungen, die wir in diesem Jahr gemacht haben, wollen wir mitnehmen und die Zukunft gemeinsam mitgestalten. Wir sind nicht allein. Und aus dem Dank erwächst die Bitte und daraus ein Bild von dem, wie es sein könnte. Ich freue mich darauf, dieses Bild mit Ihnen herauszufinden und zu zeichnen.

Ihnen wünsche ich von Herzen in diesem Sinne einen spannenden Austausch am Tag der Deutschen Einheit (30 Jahre!) und am Erntedankfest die Gelegenheit, in einer unserer Kirchen ganz persönlich „Danke“ zu sagen.

Ihr Cord-Michael Thamm

Friedrich Rosenthal wird 1913 in München geboren.
Ostern sucht er bunte Eier im Garten.
Weihnachten riecht es nach Lebkuchen und Marzipan.
Friedrich Rosenthal macht in München sein Abitur, eine Lehre und studiert.

Er wird verhaftet. Immer wieder verhaftet. Zusammengeschlagen. Verfolgt.
Er flieht. 1935 flieht er nach Israel, das es damals noch gar nicht gab.
Flieht nach Palästina. In eine Idee, die seinen Verfolgern, den Nazis ein Dorn im Auge war: Ein jüdischer Staat.
Ein Staat für das Volk, das die Nazis auszurotten gedachten. Und taten: Besessen von der Auslöschung, vom Töten.
Fast. Fast wäre ihnen das gänzlich gelungen.
Zum Glück nicht. Gott sei Dank nicht.

Friedrich Rosenthal heißt da schon lange nicht mehr Friedrich Rosenthal.
Er heißt „Frieden, Sohn der Freiheit“ – Schalom Ben-Chorin.
Den Frieden trägt er im Namen. Und fragt selbst:
„Muss man nicht ein bisschen verrückt sein, um die Hoffnung nicht aufzugeben in dieser Welt?“

Er zweifelt. Natürlich zweifelt er. Wie so viele Juden.
Ob Gott sein Volk fallen lassen hat? Ob Gott Israel nicht mehr die Treue hält?
„Können wir nach Auschwitz noch glauben? Können wir Gott vergeben, dass er dem entmenschten Menschen nicht gewehrt hat?“, fragt er.
Die Grausamkeit, die seine jüdischen Geschwister erfahren, lässt nur ein „Ja“ auf diese Fragen zu.

Aber Schalom Ben-Chorin ist ein bisschen verrückt.
Er gibt die Hoffnung nicht auf.
Seine Hoffnung auf Gott.
In dieser Welt.
Wie? Eine Antwort findet er im Hohelied der Liebe des Juden und späteren Christen Paulus, im Neuen Testament:
„Die Liebe hofft alles, sie duldet alles. … Die Liebe hört niemals auf.“
Die Liebe hört niemals auf.
Der Hass darf nicht weitergegeben werden von Generation zu Generation.

Schalom Ben-Chorin ist Journalist, Religionswissenschaftler, Schriftsteller. Und Dichter.
Noch im Zweiten Weltkrieg dichtet er:
„Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?“

Den Mandelzweig sieht er wirklich blühen.
Den Mandelbaum kann er aus seinem Arbeitszimmer sehen.
Es ist Krieg. Es ist eine furchtbare Zeit und Schalom Ben-Chorin sieht nach draußen und sieht, wie die Mandelblüten blühen.
Auch in schrecklichen Zeiten, auch im Krieg, schickt der Frühling seine Vorboten.
Zartrosa und weiß kündigen die Blüten der Mandelbäume den Frühling an.
Sie sind ein Zeichen dafür, dass Hoffnung besteht, dass das Schlimme einmal vorbeigeht und dass es besser wird.

Schalom Ben-Chorin hat die Hoffnung auf Frieden nie aufgegeben, auch nicht für Israel und Palästina – Er ist eben ein bisschen verrückt.
Daran denken wir heute und sehen zugleich den sanften Fingerzeig des Friedens, wenn zwischen Israel und den Arabischen Emiraten diplomatisches Miteinander zaghaft erblüht.

„Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?“
Diese Zeilen greift Ben-Chorin nicht aus der Luft.
Sie stammen aus einer Stelle beim Propheten Jeremia, wo es heißt:
„Das Wort des Herrn erging an mich: Was siehst du, Jeremia? Ich antwortete: Einen Mandelzweig. Da sprach der Herr zu mir: Du hast richtig gesehen; denn ich wache über mein Wort und führe es aus.“ (Jer 1,11f)
Im hebräischen Text steckt darin ein Wortspiel:
„Mandelzweig“ und „wachen“ klingen auf Hebräisch fast gleich.
Der Mandelzweig ist der Fingerzeig, dass Gott über seine Welt wacht.
Auch dann, wenn wir das fast schon gar nicht mehr wahrnehmen können.
Diese Hoffnung gibt Schalom Ben-Chorin nicht auf, auch im Krieg nicht.
Seine Hoffnung trotzt Verfolgung, Verhaftung, Töten, Auslöschen.

Wie der Mandelbaum hinter seinem Haus.
Irgendwann, der Krieg ist längst vorüber, Israel ein unabhängiger Staat und Ben-Chorin setzt sich für den jüdisch-christlichen Dialog ein, da bekommt er Besuch aus Deutschland, von einem Liedermacher, der seine Zeilen vertont hat.
Sein Besucher fragt nach dem Mandelbaum. Und Ben-Chorin erzählt:
Der Baum ist gefällt. Platten in den Hof gelegt.
Aber eines Tages brechen die Wurzeln des Baumes durch die Platten.
Der Mandelbaum findet seinen Weg.
Oder, wie Ben-Chorin sagt:
„Die Hoffnung ist nicht totzukriegen.“

Das lehrt uns Schalom Ben-Chorin, ein Jude.
Das hören wir heute, am Israelsonntag.

Im Evangelium hören wir vom Juden Jesus.
Jesu Antwort auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot.
Aus 613 Vorschriften, 248 Geboten und 365 Verboten, wählt Jesus als Antwort diese beiden:
„Das wichtigste Gebot ist dieses: ‚Höre, Israel! Der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deinem ganzen Willen und mit deiner ganzen Kraft.‘
Das zweite ist: ‚Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst.‘
Kein anderes Gebot ist wichtiger als diese beiden.“ (Markus 12,29-31)

Gott lieben und meinen Nächsten, das ist das wichtigste.
Das wichtigste Gebot ist nicht nur eins, sondern zwei, eigentlich sogar drei: Gott lieben. Meinen Mitmenschen lieben, wie ich mich selbst liebe.

Dieser Jude, Jesus, ist unser Weg zu Gott.
Über Jesus schreibt Ben-Chorin:
„Jesus ist für mich der ewige Bruder, nicht nur der Menschenbruder, sondern mein jüdischer Bruder.“
Von ihm hat er die Hoffnung, dass das Leben stärker ist als alles Böse.

Und deshalb spricht Ben-Chorin uns an: „Freunde“
Er will unsere Augen und unsere Herzen öffnen.
Er will uns zeigen, dass das Leben stärker ist als alle Todesmächte.
Diese Sehnsucht teilen die Menschen. Ob Christen, ob Juden.
Sie kann uns verbinden.
Sie kann uns zu Gott führen, durch alle Kulturen und Religionen.

Diese Hoffnung ist nicht totzukriegen.

„Freunde, dass der Mandelzweig sich in Blüten wiegt,
bleibe uns ein Fingerzeig, wie das Leben siegt.“

Amen.

Pastor Groeneveld

(Predigt zu Lk 5,1-11)

Eine Geschichte fast so schön und fast so bekannt wie die Weihnachtsgeschichte: „Es begab sich aber zu der Zeit…“

… als sich die Menge zu Jesus drängte, zu hören das Wort Gottes. Da stand er am See Genezareth. Vermutlich schien die Sonne und es war sehr heiß.

Zur gleichen Zeit regnete es in dem Gebiet zwischen dem Osning und dem Kalkrieser Berg. Sümpfe, Moore, dichte Wälder prägten dieses Land. Und Kaiser Tiberius, der Stiefsohn und Nachfolger von Kaiser Augustus herrschte in Rom (14-37). Unter ihm wurde der Feldherr Germanicus in die germanischen Gebiete entsandt, um die Varus-Schlacht zu rächen (14 bis 16), was nicht wirklich gelang. Die germanischen Stämme, unter ihnen die Cherusker, wurden mehr und mehr sich selbst und ihren Stammesfehden überlassen. Die Nordgrenze des Römischen Reiches wurde fest gemacht und verlief nun entlang des Rheins und der Donau. Ein Jahrhundert später war dann auch der Limes zwischen diesen beiden Grenzflüssen fertiggestellt.

Die römische Zivilisation entfaltete sich zwischen Osning und Wiehengebirge zunächst nicht – geschweige denn der christliche Glaube.

Am See Genezareth waren die Menschen ihrer Zeit voraus. Sie durften bereits schnuppern und spüren, welche Kraft, welchen Trost und welche Vision Gott, der Schöpfer, Erhalter und Erlöser für die Menschheit hatte.

Dazu bedarf es keines Kaisers. Dazu bedarf es keiner Legionen. Dazu bedarf es keiner Völkermassen.

Dazu bedarf es eines Wortes, das an eine Person gerichtet wird:

„Simon, fahr hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!“

In der letzten Nacht nicht gefangen – keinen einzigen Fisch? Du hast keinen Erfolg gehabt bei Deiner Arbeit?

Das spielt keine Rolle! Schau nach vorn – nicht zurück. Vertrau ihm, der das sagt, dem Schöpfer, dem Erhalter, dem Erlöser – und tu, was er sagt – auf sein Wort hin.

Simon fuhr hinaus, wo es tief ist. Er warf mit seinen Männern die Netze aus. Gemeinsam fingen sie eine große Menge Fische.

So auch Du! Wenn Du seinen Ruf hörst: „Geh – versuch es noch einmal – auf mein Wort hin!“ Dann tu es. Probier es. Sei Deiner Zeit voraus. Es steht unter seinem Segen. Es lohnt sich. Du wirst es sehen.  Menschen, an Deiner Seite gehen Dir zur Hand. Sie helfen mit. Es ist nicht umsonst. Es wird Euch gelingen. Der Herr, Jesus Christus, wird Dich nicht enttäuschen. Amen

von Pastor Cord-Michael Thamm

„Vergeltet Böses nicht mit Bösem. Habt den anderen Menschen gegenüber stets nur Gutes im Sinn. Lebt mit allen Menschen in Frieden – soweit das möglich ist und es an euch liegt.
Nehmt nicht selbst Rache, meine Lieben. Überlasst das vielmehr dem gerechten Zorn Gottes. In der Heiligen Schrift steht ja: „‘Die Rache ist meine Sache, ich werde Vergeltung üben‘ – spricht der Herr.“
Im Gegenteil: „Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen. Wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, ist es, als ob du glühende Kohlen auf seinem Kopf anhäufst.“
Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!“ (Römer 12,17-21)

So der Predigttext heute. Aus Paulus‘ Brief an die Römer.
Das ist der Beginn der Predigt heute und eigentlich könnte das doch auch schon das Ende der Predigt sein.
Was soll ich da noch hinzufügen?

„Vergeltet Böses nicht mit Bösem. Habt den anderen Menschen gegenüber stets nur Gutes im Sinn. Lebt mit allen Menschen in Frieden – soweit das möglich ist und es an euch liegt.“Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!“ (Röm 12,17+18+21)

Eigentlich gibt’s da nichts hinzuzufügen.

Aber Menschen haben diesen Worten über die Jahrhunderte etwas hinzugefügt. Dabei ist Paulus‘ Ansinnen so simpel wie erstrebenswert:
Böses nicht mit Bösem vergelten. Das Böse durch das Gute überwinden. Und – soweit es uns möglich ist und an uns liegt – mit ihnen im Frieden leben.

Menschen haben diesen Worten über die Jahrhunderte etwas hinzugefügt.

Böses. Nicht Gutes.
Hass. Nicht Frieden.
Menschen haben den Tod gewählt. Nicht das Leben.

Coldplay – Death and all of his friends

Aber immer wieder trotzen Menschen dem Bösen.
Immer wieder findet Paulus Nachfolger und Nachfolgerinnen, die seine Sehnsucht teilen. In Worten und Taten. Mit Liedern.
Ein Lied von Coldplay ist mir präsent: „Death and all of his friends”. Der Tod und all seine Freunde. Das Lied hat wenig Text, braucht nur wenige Worte. Diese sind dafür umso eindrücklicher:

„No I don’t want to battle from beginning to end.
I don’t want a cycle of recycled revenge.
I don’t want to follow Death and all of his friends.“
(Coldplay – Death and all of his friends)

„Nein, ich will nicht vom Anfang bis zum Ende kämpfen.
Ich will keinen Kreislauf der Rache.
Ich will nicht dem Tod und all seinen Freunden folgen.“
Eine trotzige Sehnsucht, ein hoffnungsvoller Wunsch:
Kein Kämpfen. Kein Tod. Keine Rache.

Die Sache mit der Rache. David und Josef.

Die Rache. Bei Paulus hat sie seinen Platz.
Er entzieht die Rache uns Menschen.
Und überlässt sie Gott.
Wohlahnend, dass die Rache ein zutiefst menschliches Gefühl ist, das der Mensch nur zu oft auslebt und Realität werden lässt.
Wohlwissend, dass er einen Gott predigt, der liebt.

Paulus wischt die Rache fort. Hinein in Gottes Hände.
Denn die Rache ist dunkel und hässlich.
Stattdessen zieht Paulus die Liebe heran. Liebe ist süß und hell.

„Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen. Wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, ist es, als ob du glühende Kohlen auf seinem Kopf anhäufst.“ (Röm 12,20)

Was für ein Bild das ist! Liebe, die sich anfühlt, wie glühende Kohlen auf meinem Kopf.
Das ist das Gefühl der Reue.

Paulus hat nicht erfunden. Er zitiert aus dem Buch der Sprüche, aus der Weisheit des Alten Testaments. Er zitiert das Judentum, die Religion, in der er aufgewachsen ist.

Paulus ist aufgewachsen mit der Geschichte Davids, der sich in der finsteren Höhle versteckt. David, der noch kein König ist, sondern fliehen und um sein Leben fürchten muss.

Sein Feind ist Saul, der König. Er, sein Feind, taucht in der Höhle vor David auf, nur wenige Meter entfernt von ihm.

Jetzt ist die Gelegenheit, den zu töten, der ihn töten will. David zieht sein Schwert. Spürt es kalt und schwer in seiner Hand. Schlägt zu.

Und dann hält er ein Stück von Sauls Mantel in der Hand. Er verschont ihn. Sieht zu, wie er die Höhle wieder verlässt.

Paulus ist aufgewachsen mit der Geschichte Josefs, den seine Brüder als Sklaven verkauft haben. Aus Neid, Eifersucht, Hass. Josef, mit dem Gott und die Geschichte es gut meinen. Der nun ein mächtiger Mann in einem fremden Land  ist.

Seine Brüder fallen ihm in die Hände. Er kann über ihr Leben entscheiden. Sie fürchten sich. Betteln um Vergebung. Aber Josef vergibt ihnen. „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.“ (Gen 50,20)

Jesus, der Splitter und der Balken.

Auch Jesus wächst mit diesen Geschichten auf.
Mit Geschichten, die den Kreislauf der Rache durchbrechen. 
Geschichten von Menschen, die Böses durch Gutes überwinden.
Menschen, die das Leben wählen und nicht dem Tod folgen.

Davon predigt Jesus.

Davon handeln die Erzählungen, die uns von ihm überliefert sind.
Jesus rettet die Frau, die die Ehe gebrochen hat. Die zum Tod verurteilt ist. Er rettet sie, weil es keinen gibt, der selbst ohne Fehltat ist.
Jesus rettet die Prostituierte, den Zolleintreiber, den Soldaten.
Er rettet sie mit der Botschaft der Liebe, die das Böse überwindet, die stärker ist als der Tod.

Und Jesus hält uns den Spiegel vor.
Er kennt den Splitter im Auge meines Gegenübers.
Aber er sieht auch den Balken in meinem Auge.

Anleitung zum Scheitern und trotzdem Versuchen

„Vergeltet Böses nicht mit Bösem. Habt den anderen Menschen gegenüber stets nur Gutes im Sinn. Lebt mit allen Menschen in Frieden – soweit das möglich ist und es an euch liegt.“Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!“ (Röm 12,17+18+21)

Eigentlich gibt’s da nichts hinzuzufügen, habe ich am Anfang gesagt und habe es nun doch gemacht. Weil die Geschichte nicht zu Ende erzählt ist. 

Weil die Geschichten nicht zu Ende erzählt sind. Weil auch wir noch viel hinzuzufügen haben.

Josef, der seinen Brüdern großmütig vergibt, hat sich zuvor für besser als sie gehalten und sich ihren Neid redlich verdient.

David, der seinen Feind gnädig verschont, wird später als König Ehe brechen und einen Mann in den Tod schicken.

Und trotzdem halte ich daran fest:

Nein. Ich will keinen Kreislauf der Rache.
Ich will nicht dem Tod und all seinen Freunden folgen.
Ich will das Leben wählen. Ich will das Gute tun.
Es wenigstens versuchen. Soweit es möglich ist.

Ich werde scheitern. Immer wieder.
Und ich werde es immer wieder von Neuem versuchen.
Ich kann das tun, weil ich getauft bin und dieser Trost bleibt, so oft ich auch scheitere und es wieder versuche:

Wir haben einen Gott, der gnädig ist und barmherzig.
Wir haben einen Gott, der liebt.
Wir haben einen Gott, der tröstet.

Amen.

Pastor Groneveld

Der erste Vers, den wir in der Lesung gehört haben, hört sich auf Hebräisch so an: „Mi-El ka-mo-cha    No-Sche A-On“ – wo ist ein Gott, wie Du es bist, der die Sünde vergibt? Die Kurzform der Frage „Wer ist wie Du, Gott?“ wurde dann zum Prophetennamen. Aus „ka-mocha“ wurde Micha. Sein Buch ist als Drama mit verschiedenen Rollen gestaltet. Die Kapitel 6 und 7 bilden den 2. Akt, einen Rechtsstreit Gottes mit seinem Volk. Gottes Rolle wandelt sich dabei vom Streitgegner zum Retter des Volkes.

Die Antwort auf die besagte Micha-Frage „Wer ist wie Du, Gott?“ lautet einfach: Niemand. Kein anderer Gott ist Du, Gott, Lebendiger!

Du bist ein Gott, der Schuld erlässt, denen, die geblieben sind.

Du bist ein Gott, der Gefallen hat an Gnade!

Du bist ein Gott, der sich unser erbarmt und all unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen wird.

Ich denke an diesen denkwürdigen Roman, der wie kein zweiter in diese Zeit passt, den ich in den zurückliegenden Wochen der „Corona-Zeit“ gelesen habe. Sein Titel ist:

„Der Wal und das Ende der Welt“. Geschrieben hat ihn John Ironmonger, der in Cornwall lebt.

Joe, ein junger, erfolgreicher Investmentbanker aus der City of London, lebt in einer Welt, in der täglich Millionen Pfund, Euros und Dollar bewegt werden. Seine Abteilung gewinnt immer dann riesige Summen und streicht sie ein, wenn andere große Verluste machen. Das ganze nennt sich „Leer-Verkäufe“ und ist für den Laien, zu denen ich mich auch zähle, sehr schwer zu verstehen, geschweige denn, nachzuvollziehen. Diese Methode scheint in der Tat auch in der realen Welt in irgendeiner Weise legal zu sein. Legitim und ethisch ist sie m.E. nicht. Die Freude ist in dieser Abteilung also immer riesig groß, wenn wieder eine Firma zunächst hochgeputscht wurde – und dann alle erworbenen Aktien auf einen Schlag verkauft wurden und die Aktie ins Bodenlose fällt. Dann knallen die Korken. Prämien werden an alle Mitarbeiter*innen gezahlt. Die größten, schicksten und PS-stärksten Autos werden gekauft. Natürlich verkehrt man nur unter seinesgleichen – in der City of London.

Jack gehört aber gleichzeitig auch zu den begabtesten und pfiffigsten im gesamten Team. Zudem beschäftigt er sich auch mit anderen, auch kritischen Ansätzen. Und er entwickelt ein sehr komplexes Computer-Programm, das bei seiner Vollendung schließlich in der Lage ist, passgenaue Vorhersagen für große, globale Krisen treffen kann. An einem Tag schwirrt ihm der Kopf. Die ganze Sache wird ihm zu heiß. Er kann sie weder kontrollieren, noch einhegen. Alles nimmt seinen Lauf. Und er nimmt reißaus.

Ich möchte nicht zu viel verraten – doch findet er sich kurze Zeit später nackt, angespült an einem Strand in Cornwall wieder. Seine Flucht aus dieser sündenbeladenen Welt in der City of London wird schließlich eine Reise ins Leben, zu den Menschen, zu den guten und menschlichen Seiten des Lebens, schließlich zu sich selbst.

Er wird schließlich gehören zu denen, die viel Schuld auf sich geladen haben, dann aber geblieben sind (und eben nicht davon weggelaufen sind) und so weiterhin zum Rest des gesegneten Volkes Gottes gezählt werden – ihnen wird ihre Schuld erlassen. So hat es der Prophet Micha – „wer ist wie Du, Gott?“ – für uns alle, für alle Zeiten vorhergesagt.

In der Tat wird Joe genau dieses erfahren: Was alles im Leben – Ihr Lieben: Wir haben nur eins! – an Gutem geschehen kann, wenn wir diesem Gott – „wer ist wie Du?“ –  vertrauen, ihn an seine Verheißung, seinen Schwur erinnern, den er Jakob und Abraham erwiesen hat – so wie Micha es tut. Wenn wir als Gesegnete diesen Segen weitergeben. Und Segen bedeutet Leben und Lieben und Annehmen und Glauben und Gelingen und Wunder geschehen lassen.

So erleben Joe und die, die ihn am Strand gefunden und ihn so gerettet haben, nicht nur ein Wunder. Vor allem werden ihnen allen die Augen geöffnet – für das, was wirklich zählt im Leben – Mitmenschlichkeit, soziale Bindungen, neue Aufbrüche, neue Perspektiven und, was das wichtigste ist: Genug für alle!

Hört sich das an wie eine Utopie?

Nun ja, das geht natürlich nur mit uns – zunächst müssen auch wir unser Leben, das private wie gesellschaftliche und globale, auf den Prüfstand stellen. Dann müssen wir das ändern, was nicht diesem Ziel, Gottes Geboten zu Gerechtigkeit und Frieden, dient. Dann müssen wir einmütig einräumen, dass auch wir gesündigt haben und aktuell sündigen. Dann müssen auch wir unsere Haltung ändern, ja umkehren, wie Johannes der Täufer es am Jordan gepredigt hat: Metanoeite! Kehret um, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!

Und es geht natürlich nur mit diesem Gott „wer ist wie Du, Gott“, der uns Menschen – ohne, dass dafür ein Opfer dargebracht werden müsste – die Sünde vergibt, ja, der Gefallen hat an der Gnade, ja daran, dass Wunder geschehen, das Menschlichkeit sich durchsetzt und dass nach der Krise das Leben, das pralle Leben, das nicht auf Kosten anderer lebt, konkrete Gestalt annimmt.

Sein Geist möge uns auf diesem Weg in die neue Zeit führen und leiten, uns inspirieren und so die veränderte Haltung zu konkreten Taten und Handlungen werden.

Amen